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Das Geheimnis des Hofnarren | Gustav Kiepenheuer 1999 | Hardcover | 318 Seiten
Taschenbuch 2001
E-Book 2015

Durch Zufall kommt ein Antiquar und Buchhändler einem seit Generationen erfolglos gesuchten Schatz auf die Spur. In einem Buch aus dem 18. Jahrhundert entdeckt seine Tochter eine skurrile Textveränderung gegenüber anderen Ausgaben. Ihre Recherchen führen sie zu Ernst Schneller, dem Hofnarren des sächsischen Kurfürsten Friedrich Augst II., Thronfolger von August dem Starken.

Dem aus Wien besorgten Tagebuchfragment Schnellers entnehmen sie die Geschichte des Narren: Sein Aufstieg am sächsischen Hof war kometenhaft, um so tiefer war sein Fall. Als sich der Kurfürst von seinem einstigen Liebling abwendet, treiben ihn Verfolgung und drohende Gefangennahme in den Selbstmord. Sogar seinen Freitod inszeniert der Narr mit Humor und Lust am Verwirrspiel. Wo aber ist all sein angehäufter Reichtum abgeblieben? Schneller vererbt nach dem Zufallsprinzip.

Besessen von der Schatzsuche, entziffern der Antiquar Simon Schuster und seine Tochter historische Karten und entschlüsseln die kryptischen Anweisungen des Narren, die zur sächsischen Schatzinsel in den Dresdner Blüher-Park führen. Skrupellose Gegenspieler durchkreuzen Simons Recherchen, und es entbrennt ein erbittertes Wettrennen um die vergrabenen Kisten des Hofnarren.

Der im 18. Jahrhundert und in der Gegenwart angesiedelte Roman spielt in Berlin, Dresden und Wien. Vor historischem Hintergrund entfaltet sich eine Geschichte voller überraschender Wendungen, in der niemand unschuldig bleibt.

Presse

Wie aus dem Tod eines Narren am Hofe von Friedrich August II. von Sachsen vor 250 Jahren eine spannende und literarisch anspruchsvolle Kriminalgeschichte von heute werden kann, beweist Detlef Bluhm mit seinem Roman Das Geheimnis des Hofnarren, der zu jenen Büchern gehört, die man, schnell im Bann der Geschichte gefangen, erst dann wieder aus der Hand legen mag, wenn die letzte Seite des Buches lesend erreicht ist. Detlef Bluhm versteht es auf die unterhaltsamste Weise, die überaus interessante Geschichte der europäischen Hofnarren und ihre Verdrängung von der Seite ihrer Fürsten durch deren Mätressen so in seinen Kriminalroman einzuflechten, daß der Leser mühelos zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her reisen kann. Kurz und gut: Das Geheimnis des Hofnarren ist ein Lesevergnügen der allerfeinsten Art.
Deutsche Welle vom 21. September 1999

Was zunächst als flotte Gang-und-gäbe-Lektüre daherkam, erweist sich mehr und mehr als klug kalkuliert, souverän konstruiert. Ein Netz von Intrigen durchwebt die Ereignisse, und lange bleibt offen, wer den leisen, den hinterhältigen Kampf um den Narrenschatz gewinnt. Es kommt zu einem beißend ironischen, seltsam komischen, überaus bösartigen Happy End.
Nürnberger Nachrichten vom 29. März 2000

Detlef Bluhm ist eine wunderbar geplottete, von a-moralischer Bosheit funkelnde caper novel gelungen. Ganz und gar un-deutsch, mit hochplausibler krimineller Energie und robuster, fröhlicher Gier. Das Geheimnis des Hofnarren ist wirklich ein erstaunlicher Roman. Er faltet alles in seltener Deutlichkeit auf: Die großen und kleinen, die ganz normalen alltäglichen Schweinereien, das System der gegenseitigen Vorteilsnahme und des gegenseitigen Aufs-Kreuz-legen. Stiller, verschmitzter und unspektakulärer hat selten jemand in den letzten Jahren die Verfaßtheit des gesamtdeutschen Mittelstandes vorgeführt. Nicht schön, aber unterhaltsam und komisch.
Freitag vom 3. Dezember 1999

Verleger müssen nicht neidvoll aufs Angelsächsische schielen, wenn sie intelligente Unterhaltung suchen. Hiesige Autoren können das auch.
Sächsische Zeitung vom 14. August 1999

This gripping page-turner is successful on more than one level. Extracts from the court jester’s diary, a skilful and entertaining eightteenth-century pastiche, provide much fascinating local and historical detail which enthrals in ist own right. The coincidences betwee the action in 1756 and the present day – murders in the library, exavacations in the park, and communications by messengers on Horseback or mobile phone – offer clues to the attentive reader which may be genuine or may lead up blind alleys. The modern sections offer vivid glimpses of literary life in toda’s Berlin. The author is himself a bookseller and small publisher so knows what he is talking about. The antiquarian know-how, on which the plot of this thriller turns, brilliantly marries the exiting and the arcane.
New Books in German autumn 1999

Leseprobe

»Wie ich gestern schon gesagt habe: der Morgen ist immer klüger als der Abend!«
Simon Schuster schreckte zusammen. Er saß gerade beim Frühstück auf der Terrasse, als Claudia von ihrer morgendlichen Fahrradtour durch den Grunewald zurückkehrte, die sie oft unternahm, wenn sie im Haus ihres Vaters übernachtet hatte. Ihre lauten, in seinem Rücken gesprochenen Begrüßungsworte trafen Simons Kopf wie kleine Hammerschläge. Er konnte an diesem Morgen auf die doppelsinnige Weisheit der angehenden Volkskundlerin gut und gern verzichten. Gestern Nacht, nach seiner Geburtstagsfeier und endlich allein, hatte Simon sich noch eine Verkostung der als Geschenk ins Haus gekommenen Whisky-Raritäten gegönnt, und jetzt spürte er deutlich, daß er stattdessen besser hätte ins Bett gehen sollen.
Claudia gab ihrem Vater einen Kuß auf die Stirn und setzte sich an den gedeckten Tisch. Nach ihrem Frühsport hatte sie ausgewaschene Jeans und ein rotes T-Shirt angezogen. Ihre schwarzen Locken fielen bis auf die Schultern und waren noch naß vom Duschen.
»Du siehst aus, als hättest du gestern eine Zigarre zuviel geraucht«, kommentierte sie beiläufig seine Verfassung.
»Die Tochter sollte jetzt besser schweigen«, knurrte Simon und fuhr ohne aufzusehen fort, einen Rollmops zu sezieren.
Claudia nahm ihr Frühstücksei aus dem Wärmebehälter, griff sich das Feuilleton der Sonntagszeitung und sah, daß Julia für Simon ein reichhaltiges Katerfrühstück zubereitet hatte: Spreewälder Gurken, Spiegelei mit Schinken, Würstchen mit Senf, Rollmöpse, Bouillon mit Nudeln, grünen Tee und frisch gepreßten Orangensaft. Sie überflog einen Artikel über den gestern beendeten Kongreß der Deutschen Gesellschaft für europäische Ethnologie und bemühte sich, die Seiten der Tageszeitung möglichst leise umzuschlagen. Wenn Simon sie in der dritten Person anredete, war Vorsicht geboten. Sie beobachtete verstohlen ihren Vater, der gepeinigt im Lokalteil blätterte, und ihr fiel ein Zitat von Elias Canetti ein: »Dort lesen die Leute zweimal im Jahr die Zeitung, übergeben sich und gesunden.« Sie wußte nicht, ob er diesen Satz kannte, beschloß aber, ihn jetzt besser nicht danach zu fragen.
Simon war weder rasiert noch gekämmt. Das von grauen Strähnen durchzogene Haar sah aus wie ein Heuschober nach einem Sommergewitter. Aber Claudia ließ sich von diesem bedauernswerten Anblick die Sonntagsstimmung nicht verderben. Es war erst kurz nach zehn, und doch hatte die kräftige Sommersonne die Feuchtigkeit der Nacht aus dem Garten fast vollständig vertrieben. Claudia schloß die Augen und lehnte sich behaglich in ihren Rohrsessel zurück. Sie genoß die Ruhe, das leise Rauschen des Rasensprengers, das vom Nachbargrundstück herüberklang, und dachte nur ungern an den Fontanekreis, der sich in wenigen Stunden wie an jedem ersten Sonntag im Monat nachmittags im Haus treffen würde. Sie wußte, daß Simon dann wieder fit sein würde, und sah ihn schon vor sich, wie er, gestützt auf seinen Ebenholzstock mit dem ziselierten Silbergriff, die Gäste begrüßte und dabei jedem einzelnen das Gefühl gab, er freue sich über sein Kommen ganz besonders.
Simon war kaum mittelgroß, er wurde von den meisten Männern und nicht wenigen Frauen überragt. Aber seine wachsamen dunklen Augen, das auffällig scharf geschnittene Gesicht, die unaufdringliche Eleganz der Kleidung und seine Fähigkeit, jeden Gast mühelos plaudernd in einen Zustand zu versetzen, den Claudia in einer Mischung aus Bewunderung und Ironie als das »Mysterium der großen Harmonie« bezeichnete, kurz, Simons äußere Erscheinung und seine vertrauenstiftende Ausstrahlung ließen ihn fast überall zum Mittelpunkt werden. Dies galt natürlich umso mehr, wenn er sich in der Rolle des Gastgebers befand.
Simon stand auf und murmelte etwas von »sich frisch machen«. Aber Claudia hörte nicht hin, sie war in Gedanken bei dem erstaunlichen Text, den sie ihrem Vater nachher zeigen wollte. Wenn er, geduscht und rasiert wieder seinen Platz am inzwischen abgedeckten Tisch auf der Terrasse eingenommen haben würde, um die erste Zigarre des Tages zu rauchen. Claudia liebte diese Stunde, wenn Simon nur für sie Zeit hatte. Sie tauschten dann Belanglosigkeiten aus, sprachen über gelesene Bücher, mitunter stritten sie auch. Heute würde sie ihm von einem ganz besonderen Leseerlebnis berichten.

Wie immer erst nach dem Duschen schaute Simon in den Spiegel des Badezimmers, denn der Anblick seines verschlafenen Gesichts rief ein beängstigendes Gefühl der Fremdheit in ihm hervor. Nach der Rasur beobachtete er sich lange und nicht unzufrieden; die 54 Jahre waren ohne tiefe Spuren an seinem schmalen, nahezu faltenlosen Gesicht vorbeigegangen. Er ging zurück in das direkt angrenzende Schlafzimmer, wo schon seine Kleidung bereitlag. Egal wie spät es nachts wurde und was und wieviel er auch getrunken hatte, immer legte er sich vor dem Schlafengehen zurecht, was er am nächsten Tag anziehen wollte; eine aus seiner Kindheit stammende Angewohnheit, die der Enge der damaligen Wohnverhältnisse entsprang. In das Kinderzimmer paßte kein Wäscheschrank, deshalb waren die Anziehsachen der drei Geschwister in dem großen Kleiderschrank untergebracht, der im kombinierten Wohnschlafzimmer der Eltern stand. Dort holten sich die Geschwister vor dem Zubettgehen ihre Kleidung für den nächsten Tag und hängten sie im Flur auf.
Durch eine hohe Doppeltür gelangte er in die obere Bibliothek. Dort waren auf einem großen, alten Barwagen seine Whiskyflaschen deponiert, Zigarren lagerten in einem dunkelbraunen, regelmäßig gemaserten Humidor aus Zedernholz. Das fahrbare Möbel, Claudia nannte es etwas respektlos »den Altar«, hatte in den zwanziger Jahren dem Hotel Adlon gedient und war auf sehr verschlungenen Wegen in Simons Haus gelangt. Nachdem er eine leichte Morgenzigarre ausgewählt und angeschnitten hatte, ging er zum zweiten Mal an diesem Sonntag die Treppe hinunter ins Erdgeschoß.
Im Salon richtete Julia bereits alles für den Nachmittag her. Sie war seit über fünf Jahren bei ihm als Aushilfe im Antiquarat beschäftigt und kümmerte sich auch um den Haushalt. Zeitgleich mit Julia hatte ihr Mann Ferdinand bei Simon die Arbeit aufgenommen. Als Packer und Fahrer war er inzwischen für die Buchhandlung in der Knesebeckstraße unersetzlich geworden. Simon schätzte sehr, daß Ferdinand auch alle das Haus und den Garten betreffenden Arbeiten umsichtig erledigte. Ferdinand war damals gerade aus dem Gefängnis gekommen. Eine befreundete Bewährungshelferin hatte den Kontakt zu Simon vermittelt, der anfänglich einige Bedenken wegen der Nachbarn gehabt hatte, denn einen verurteilten Trickbetrüger stellte man in Grunewald nicht ohne weiteres ein. Schließlich hatte Simon beschlossen, das ungewöhnliche Experiment zu wagen Er bereute es nicht, und als Zugabe profitierte sein soziales Gewissen davon.

Simon saß noch keine Minute auf der Terrasse, als Claudia sich mit einem Buch in der Hand zu ihm setzte.»Simon, sag’ mir bitte etwas zu dieser Ausgabe.« Er nahm das Buch in die Hand und erkannte es schon an seinem außergewöhnlichem Einband.
»Du hast es aus der oberen Bibliothek«, sagte er mit ärgerlichem Unterton; er sah es nicht gern, wenn sie, ohne zu fragen, seine Bücher auslieh. Claudia zuckte nur ungeduldig mit den Schultern.
»Na gut.« Simon blätterte das Buch auf. »Das ist die ›Insel Felsenburgvon Johann Gottfried Schnabel.« Er vergewisserte sich durch einen Blick auf den Haupttitel, bevor er ergänzte: »Und zwar die 7. Auflage von 1751 in einem besonders schönen Einband der Zeit.«
Claudia schaute ihn fragend an.
»Diese Ausgabe wird erst durch ihren Einband wirklich wertvoll, eine wunderbare Arbeit. Blaues Maroquinleder, das ist das Leder von der Kapziege, und ein sehr originell gestaltetes Supraexlibris, das im Gegensatz zum Exlibris auf die Vorderseite des Bucheinbandes geprägt wurde. Seit dem 16. Jahrhundert in Europa weit verbreitet. Dieses hier bezeichnet den Besitzer des Buches allerdings nicht namentlich, sondern charakterisiert ihn lediglich durch einen Eselskopf, ein Kartenspiel und drei Spielwürfel, etwas skurril. Also, was interessiert dich an dem Buch?«
Claudia nahm es ihm aus der Hand, schlug eine Seite auf und zeigte mit dem Finger auf eine bestimmte Textpassage.
»Lies’ selbst.«
Simon griff erneut nach dem Buch und las laut: »Auf der äusersten Felsen-Höhle gegen Osten war ein bequemliches Wacht-Hauß erbauet, welches wir nebst denen dreyen dabey gepflantzten Stücken Geschützes in Augenschein nahmen, und uns anbey über das viele im Walde herum lauffende Wild sonderlich ergötzten. Nur ein Narr kann es errathen. Der Schlüssel liegt bei KWD und auch bey meinem Ruhm. Man grabe tief nur 200 Schritt von der Allee bey Numero 57. Drey Fundsachen: Kisten, Bibel und Gesang-Buch, nebst andern gewöhnlichen Geschencken vor die Jugend empfangen hatte, zu rechter Zeit den Rückweg auf Alberts-Burg antraten.«
»Das reicht«, unterbrach ihn Claudia. »Was sagst du dazu?«
Simon las den Text noch einmal langsam im stillen und sagte schließlich: »Der letzte Satz ergibt keinen rechten Sinn. Was soll das?« Er schaute seine Tochter an. »Ich bin Buchhändler und Antiquar, kein Germanist. Ich habe keine Ahnung.«
Claudia schob ihm eine Fotokopie hin. »Dann lies bitte im Vergleich dazu den hier markierten Text.«
Simon las wieder laut: »Auf der äusersten Felsen-Höhle gegen Osten war ein bequemliches Wacht-Hauß erbauet, welches wir nebst denen dreyen dabey gepflantzten Stücken Geschützes in Augenschein nahmen, und uns anbey über das viele im Walde herum lauffende Wild sonderlich ergötzten, nachhero in dem Robertischen Stamm-Hause aufs köstlichste bewirthet wurden, doch aber, nachdem diese Gemeine in jedes Hauß eine Englische Bibel und Gesang-Buch, nebst andern gewöhnlichen Geschencken vor die Jugend empfangen hatte, zu rechter Zeit den Rückweg auf Alberts-Burg antraten.«
Danach schlug Simon das Buch nochmals auf und verglich beide Texte eingehend. »Hier ist ein Textteil ausgetauscht worden. Der Text auf der Kopie macht Sinn, der im Buch nicht. Merkwürdig.«
»Richtig! Es handelt sich in deiner Ausgabe exakt um folgende Passage: ›Nur ein Narr kann es errathen. Der Schlüssel liegt bei KWD und auch bey meinem Ruhm. Man grabe tief nur 200 Schritt von der Allee bey Numero 57. Drey Fundsachen: Kisten‹. Diesen Text gibt es in keiner anderen Ausgabe der ›Insel Felsenburg‹. Die Kopie stammt aus einem Exemplar dieses Buches in der Staatsbibliothek, genauer gesagt aus der 7. Auflage von 1751. Es hat mich einige Mühe gekostet, eine Kopie von dieser Seite zu bekommen. Und ich habe noch fünf weitere Ausgaben bis hin zur Reclamausgabe von 1979 geprüft. Nirgendwo findet sich diese Passage. Dein Buch ist ein Unikat.«
Claudia lehnte sich zufrieden zurück. Sie konnte ihren Vater selten verblüffen. Heute war es ihr gelungen.
»Bist du sicher?«
»Ich habe das genau gecheckt.«

Simon verschluckte gerade noch rechtzeitig eine Bemerkung über unnötige Anglizismen, die nur zu einem sinnlosen Streit geführt hätte, hielt die betreffende Seite gegen das Licht, strich mit der Hand über die Buchstaben und prüfte den Bucheinband.
»Kein Zweifel, diese Passage ist gedruckt wie der Rest des Buches, sie ist auch in der gleichen Schrifttype gesetzt. Der ursprüngliche Besitzer muß einen textlich geänderten Druckbogen beim Buchdrucker bestellt und diesen gegen den Originalbogen vertauscht haben. Dann hat er alles neu oder auch erstmals in die hier vorhandene Form binden lassen. Anders kann ich mir das nicht erklären. Aber wozu? Und wie bist du überhaupt auf diesen Text gestoßen? Die ›Insel Felsenburggehört doch wohl kaum zu deiner Studienlektüre.«
»Irrtum. Im Rahmen einer interdisziplinären Projektarbeit zum Thema ›Die europäische Wirklichkeit und ihre utopischen Gegenbilder in den deutschen Robinsonaden des 18. Jahrhunderts«
Simon machte eine abwehrende Geste.
»O.K. Jedenfalls hatte ich im Zusammenhang mit diesem Projekt einige Passagen aus der ›Insel Felsenburgzu bearbeiten, dazu gehörte auch diese Seite. Du erinnerst dich vielleicht, daß ich letzten Sonntag hier noch Anzeigenrechnungen geschrieben habe. Danach wollte ich meine Textanalyse beenden und bemerkte, daß ich mein Buch in der Uni vergessen hatte. Deshalb nahm ich deine Ausgabe zur Hand. Bei der Lektüre fiel mir die Formulierung auf, die du gerade gelesen hast. Ich erinnerte mich genau, daß diese Sätze nicht in meiner Ausgabe standen. Und da habe ich aus Neugier einen Textvergleich angestellt. Das Ergebnis hast du gerade gesehen.«
Simon schüttelte den Kopf. Er hatte dafür einfach keine Erklärung.
»Seit einer Woche zermartere ich mir den Kopf, was das bedeuten soll. Mir ist nur eine Erklärung eingefallen. Es handelt sich offensichtlich um einen chiffrierten Hinweis auf drei vergrabene Kisten. Vermutlich ist es eine geschriebene Karte, eine Art Plan. Wer immer diese Textpassagen eingefügt hat, er hat an einer bestimmten Stelle drei Kisten vergraben. Man vergräbt nur etwas, wenn es sehr wertvoll ist, oder belastend, was weiß ich aus welchen Gründen noch.«
»Claudia!« Simon lachte, nahm seine Zigarre und zündete sie sorgsam an. »Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, daß du das hier für einen Schatzplan hältst?«
»So weit will ich ja noch gar nicht gehen. Aber auszuschließen ist das nicht. Jedenfalls sollten wir uns darum kümmern.«
Simon schüttelte wieder den Kopf. »Wir sollten uns darum kümmern!? Wir haben doch überhaupt keine Anhaltspunkte, keine geographischen Hinweise, nur diese nebulösen Angaben. Wo sollen wir denn suchen?«
»Wir haben das Buch«, antwortete Claudia ruhig.
Nachdenklich verfolgte er die kräftigen Rauchwolken seiner Zigarre. Natürlich würde er die Recherchen seiner Tochter noch einmal sorgfältig überprüfen. Aber warum sollte Claudia sich irren? Sie war in dieser Beziehung sehr verläßlich. Was für eine Schnapsidee! Aber er kannte ja seine Tochter. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte Und merkwürdig war es schon. Jedenfalls würde es nichts schaden, etwas über den ursprünglichen Besitzer des Buches herauszufinden.
»Habe ich dir jemals von Tom erzählt, Tom Morgan?« Claudia verneinte. »Tom ist ein alter Freund. Ich habe ihn damals in London kennengelernt. Er arbeitet im British Museum. Dort befindet sich die größte Exlibrissammlung der Welt mit weit über 100.000 verschiedenen Exponaten. Zeichne dieses Exlibris nach oder pause es ab, jedenfalls brauche ich eine faxfähige Kopie. Ich werde Tom fragen, ob er den Inhaber des Exlibris ermitteln kann. Dann sehen wir weiter.« Simon schaute auf die Uhr. »Verdammt! Gleich kommt die Stipendiatin. Geh doch inzwischen Julia etwas zur Hand. Und stell das Buch bitte wieder in die obere Bibliothek, nein, leg es einfach auf meinen Schreibtisch.«
Claudia lächelte. Äußerlich wirkte Simon völlig ruhig. Aber sie spürte, wie sein Gehirn angefangen hatte zu rotieren, angeregt vom Tabak und einem ungewöhnlichen Sonntagsrätsel.
Während Simon seinen Gedanken nachhing, fiel sein Blick auf die Einfassung der Terrasse, und wie immer begann er sich zu ärgern. Das bröckelnde Gemäuer mußte dringend erneuert werden, jeder Winter hinterließ neue Spuren. Die kleine Steintreppe, die zum Garten führte, entsprach schon lange nicht mehr dem Standard der Baubehörde. Und auch mit dem Dach des kleinen Hausmeisterhäuschens mußte bald etwas geschehen. Weil er schon dabei war, fiel ihm wieder ein, daß das Haus innen seit über zehn Jahren nicht mehr renoviert worden war. Zwar sprach ihn niemand direkt darauf an. Aber einige Mitglieder des Fontanekreises ließen ihn ab und zu spüren, daß sie eine behutsame Verschönerung der unteren Räumlichkeiten für überfällig hielten. »Denken Sie nur, Herr Schuster, ich habe gerade mein Haus komplett renovieren lassen, von polnischen Facharbeitern, die nur zehn Mark für die Stunde verlangt haben!« hatte ihm unlängst die Witwe eines wohlhabenden Patentanwaltes zugeflüstert.