Navigieren / suchen

Der Zug nach Wien | Gustav Kiepenheuer 2001 | Hardcover | 235 Seiten
Der Zug nach Wien | Aufbau Verlag 2004 | Taschenbuch | 235 Seiten

Der Zug nach Wien | Harper Collins 2006 | E-Book
Der Zug nach Wien | Deutsche Zentralbücherei für Blinde 2002 | Zwei Bände in Blindenschrift

Frühjahr 1944: Ungarn wird von den Nazis besetzt. Ein von der SS geforderter zentraler Judenrat hat die verhängnisvolle Aufgabe, die Namen und Besitzverhältnisse aller Juden Ungarns offenzulegen. Zum Judenrat gehören Paul Singer, dessen Onkel Hofrat Kahan und andere führende jüdische Persönlichkeiten. Sie wissen, dass nur einige wenige der Deportation nach Auschwitz entgehen können.

Eva, die hochschwangere Frau Paul Singers, soll mit dreitausend anderen Juden ins neutrale Ausland gebracht werden. Vereinbarungsgemäß verläßt der Sonderzug den Bahnhof von Budapest, doch dann geschieht etwas Schreckliches, etwas, das Pauls Leben über das Ende des Krieges hinaus bestimmen wird.

Nach 1945 wird Paul Singer Agent des israelischen Geheimdienstes. Mit aller Kraft jagt er jene seinerzeit in Ungarn eingesetzten Nazis, die ihrer Strafe bislang entkommen sind. Im Jahr 1999 stößt er dabei auf eine Spur, die aufs engste mit seinem ganz persönlichen Schicksal und dem seiner Familie verknüpft zu sein scheint.

Presse

So schnell legt man Detlef Bluhms Roman Der Zug nach Wien nicht beiseite. Der Autor hat einen spannenden Politthriller vorgelegt.
Deutsche Presse Agentur vom 3. März 2002

Gut recherchiert und überzeugend komponiert: Detlef Bluhm stellt erneut unter Beweis, daß er das Genre der intelligenten Unterhaltung meisterhaft berherrscht.
Goethe Institut Budapest im Februar 2002

Detlef Bluhm zweiter Roman beginnt als Reportage, detailliert wie ein Augenzeugenbericht, offenbar genau recherchiert, unprätentiös “ nachgerade ºunheimlich glaubhaft¹. Bluhm schreibt so detailliert und sachlich, mit solch sprachlicher Sicherheit, dass er selbst hier glaubhaft bleibt. Erstaunlich!
Nürnberger Nachrichten vom 19. Juni 2002

Ein raffiniert konstruierter und spannend zu lesender Roman. Die Story ist glänzend ausgedacht und dort, wo sie historische Sachverhalte thematisiert, genauestens recherchiert, ein regelrechtes Geschichtsbuch über den Mord an den ungarischen Juden. Aber die geradezu peinliche Sorgfalt, die Bluhm walten läßt, hat Exkurse und Abschweifungen zur Folge, die nur selten dem Text geschickt einverleibt werden “ so als habe der Verfasser aus historischen Quellen zitiert, ohne dabei dem Material seinen sprachlichen Stempel aufzudrücken. Umso erstaunlicher, daß trotz all dieser Mängel sich das Ganze zueinander fügt und funktioniert. Es sei deshalb noch einmal gesagt: Der Zug nach Wien ist ein spannender, gut geschriebener und raffiniert konstruierter Krimi.
Jüdische Allgemeine Wochenzeitung vom 22. November 2001

Nach Das Geheimnis des Hofnarren nun der zweite, ebenso gelungene Roman des Berliner Autors, der die Geschichte des ungarischen Juden Paul Singer erzählt. Historische Fakten und die Fiktionen des Autors sind in eine äußerst spannende Handlung eingeflossen, die den Leser von Anfang an in ihren Bann zieht.
ekz-Informationsdienst im März 2002

Eine Geschichtslektion von schreiender Eindringlichkeit.
Buchprofile im Februar 2002

Delef Bluhm hat einen spannenden Roman geschrieben, der das Damals mit dem Heute verbindet. Er zeigt wie Menschen durch historische Umstände aus ihrer Lebensbahn geworfen werden, und dann ein Leben führten, das sie sich so nie hätten träumen lassen.
RAdAR Radio Darmstadt vom 26. Juni 2002

Leseprobe

Paul Singer erwachte langsam und mit dem unbestimmten Gefühl, daß etwas anders war, ungewohnt. Er drehte sich zu Eva um, die ihm den Rücken zukehrte. Noch im Halbschlaf rückte er an sie heran und legte die rechte Hand auf ihren schon spürbar gewölbten Bauch. Sie grummelte unwillig über die Bewegung, die ihren Schlaf störte, atmete aber sogleich wieder tief und regelmäßig. Er blieb ruhig liegen und genoß die Wärme ihres Körpers. Seine Hand fühlte eine Bewegung in ihrem Bauch, ein leichtes Stoßen. Und plötzlich wurde ihm bewußt, was ihn vor wenigen Augenblicken, zwischen Traum und Erwachen so beunruhigt hatte. In die hellhörige Wohnung drangen aufgeregte Geräusche, es war lauter als sonst um diese Uhrzeit.
Er drehte sich um und nahm den Wecker vom Nachttisch. Tatsächlich! Kurz nach acht. Nie gab es sonntags um acht Uhr solche Unruhe im Haus. Er hörte Stimmen, tappelnde Schritte und knarzende Türen. Ein heftiges Türklopfen schreckte ihn auf. »Paul!« Und wieder klopfte es laut und ungeduldig an seiner Tür. »Paul, wach auf! Hier ist Samuel. Hörst du nicht? Mach auf!«
Er wollte Eva, die jetzt tief schlief, vermutlich aber die halbe Nacht wach gelegen hatte, nicht wecken und stieg vorsichtig aus dem Bett, warf sich ihren Morgenmantel über und huschte auf den Flur. Dort öffnete er leise die Tür einen Spalt. Samuel mußte ihn nicht unbedingt im Morgenmantel seiner Frau sehen.
»Was ist denn los«, fuhr er den Freund flüsternd an, »sind hier alle über Nacht verrückt geworden?« »Die Deutschen sind da, hörst du, die Nazis.«
Paul begriff nicht. »Was redest du? Welche Deutschen sind da?«
»Die Armee, die Wehrmacht, die Gestapo! Heute früh haben sie Ungarn besetzt!«

Paul steckte den Kopf durch die Tür und schaute auf den großen Innenhof. Alle Wohnungstüren gingen auf den Hof hinaus, auf offene Flure, die durch Geländer begrenzt waren. Die Nachbarn standen in allen vier Stockwerken auf den Gängen und redeten aufgeregt miteinander. Er zog Samuel ihn in die Wohnung und schaute ihn irritiert an. »Das kann doch nicht wahr sein!« Erst jetzt bemerkte er, wie aufgedreht und verwirrt Samuel war. Er begann zu begreifen.
»Es ist wahr. Budapest ist ein Tollhaus. Mach dich schnell fertig. Wir treffen uns gleich im Café zu einer Besprechung. Ich muß wieder los, Leopold abholen.«
Paul nickte und schloß die Tür hinter Samuel. Dann ging er leise ins Zimmer. Eva saß im Bett, die Hände lagen auf ihrem Bauch. Schwarze, lockige Haare standen wirr um ihr rundliches Gesicht, auf dem sich Kissenspuren abzeichneten. Sie schaute ihn mit schläfrigen Augen fragend an.
»Samuel war da. Der Vorstand trifft sich jetzt gleich im Café Parisette.« Er setzte sich neben sie aufs Bett. »Die Deutschen sind in Ungarn einmarschiert.«
Sie sahen sich einen Moment schweigend an.
»Was ist passiert?« fragte sie ihn schließlich.
»Ich weiß es nicht. Nicht mehr, als was ich dir gerade gesagt habe. Hör zu. Du bleibst in der Wohnung. Geh keinesfalls aus dem Haus.« Er stand auf und zog sich seinen einfachen Straßenanzug an. »Ich bin so schnell wie möglich wieder zurück. Bitte geh nicht aus dem Haus.«
Eva schloß die Augen und preßte die Lippen zusammen. Sie hatte damit gerechnet.

Paul ging aus der Dohány utca im jüdischen Viertel ohne Umwege zum Café Parisette am Vörösmarty ter. Die Nachricht von der Besetzung Ungarns durch die deutsche Armee mußte sich wie ein Lauffeuer verbreitet haben. Ãœberall auf den Staßen und Plätzen standen kleine Menschengruppen und diskutierten erregt miteinander. Er sah auch deutsche Soldaten. Das war eigentlich nicht ungewöhnlich, heute aber waren sie mit Maschinenpistolen bewaffnet. Und Paul beobachtete, wie zwei kleine Mercedes schnell die Király utca entlangfuhren. Er wußte, daß diese Autos von der Gestapo benutzt wurden. Bis zum Café brauchte er kaum zehn Minuten.

Das Parisette gehörte der jüdischen Familie Teichmann, die der zionistischen Bewegung nahe stand. Deshalb hielt der vierköpfige Vorstand des Vaadat Ezra v’Hazalah, des im Januar 1943 gegründeten zionistischen Unterstützungs- und Rettungskomitees, seine Sitzungen dort in einem kleinen Hinterzimmer ab. Als Paul es betrat, saßen seine anderen Vorstandskollegen schon beisammen. Der Vorsitzende, Dr. Otto Stern, nickte ihm kurz zu.
»Also«, sagte er, nachdem Paul sich gesetzt hatte, »Ich habe mit Hofrat Kahan telefoniert. Pauls Onkel ist auch in heller Aufregung, denn die Lage ist sehr unübersichtlich. Horthy wird zwar jeden Moment aus Österreich zurückerwartet, aber die Burg ist schon besetzt. Und ich habe vor ein paar Minuten erfahren, daß die Gestapo sogar Abgeordnete verhaftet hat. Bisher gibt es überhaupt keine Gegenwehr, unsere Armee verhält sich ruhig. Wir sollten jetzt hauptsächlich einen Punkt besprechen.« Er wandte sich an Paul. »Das Geld und die Protokolle, ist alles noch in deiner Wohnung?«
»Ja«, Paul war erstaunt, daß Otto Stern ihn überhaupt danach fragte. Als Schatzmeister verwaltete er das Bargeld des Vereins, das er in seiner Wohnung ebenso verborgen hielt, wie seit wenigen Tagen den Bericht der beiden jungen Slowaken Rudolf Vrba und Alfred Wetzlar, denen es nach zweijähriger Haft gelungen war, aus Auschwitz zu fliehen und über den Vernichtungsprozeß ein genaues Protokoll anzufertigen.
»Gut«, antwortete Otto Stern. »Ich meine, daß alle Unterlagen an einem anderen Ort versteckt werden sollten. Wir stehen mit Sicherheit auf den Listen der Gestapo und müssen mit Hausdurchsuchungen rechnen.«
»Wenn nicht mit Schlimmerem«, warf Leopold ein, aber niemand reagierte darauf.
Samuel meldete sich zu Wort. »Ich bin unbedingt deiner Meinung. Was haltet ihr von dem Keller?«
Alle schauten auf Paul. Ihm war im letzten Sommer eine kleine Druckmaschine unter der Hand angeboten worden, und er hatte sie kurzerhand für das Rettungskomitee erworben und in einem Kellerversteck in der Sip utca aufstellen lassen, wo sein Schwager wohnte. Es war gewiß riskant, jetzt neben dem Bargeld auch die Gesprächsprotokolle und sonstigen Aufzeichnungen dort zu deponieren. In dem Keller, in dem zahlreiche Dokumente für die geflohenen Juden aus Polen und der Slowakai gefälscht wurden. Falls die Gestapo den Keller entdecken würde, fiele ihnen alles in die Hände. Bisher kannten außer ihm nur Eva und ihr Bruder die genaue Lage des Kellers, aber da seit der Besetzung alle in Gefahr standen, war es vermutlich klüger, weitere Mitwisser zu haben.
»Eine gute Idee«, sagte er schließlich, »wir sollten das gleich erledigen, und ihr helft mir am besten dabei. Dann kennt auch ihr das Versteck, falls …« Er sprach lieber nicht zu Ende.
»Vor allem«, meinte Otto Stern, »müssen wir überlegen, wie wir den Bericht ins Ausland schaffen können. Aber erst einmal sollten wir das Geld und das Protokoll an einen sicheren Ort bringen. Laßt uns gehen.«

Während die vier das Geld und die Dokumente versteckten, trafen Obersturmbannführer Hermann Krumey, die Hauptsturmführer Otto Hunsche und Dieter Wisliceny, sowie Krumeys 24jähriger Sohn, Scharführer Werner Krumey, nur ein paar hundert Meter von der Sip utca entfernt im Hotel Astoria ein, das die Gestapo zu ihrem Hauptquartier erkoren hatte. Als sie sich an der Rezeption meldeten, waren zwar alle regulären Hotelgäste bereits ausquartiert, trotzdem herrschte noch ziemliches Durcheinander. Es dauerte eine Weile, bis ihr Anrecht auf Zimmer überprüft war und man ihnen die Schlüssel aushändigte. Nach der Inspektion der Zimmer trafen sie sich im Hotelcafé zu einer ersten Besprechung.
Das luxuriöse Hotel mit dem Foyer im Directoire-Stil und seinen verschwenderischen Holzverkleidungen, Spiegeln, Kandelabern und bequemen Sitzecken traf zwar den Geschmack der Deutschen, trotzdem war an einen längeren Aufenthalt nicht zu denken. Herman Krumey war sogar äußerst ungehalten. »Ich möchte wissen, welcher Idiot das hier organisiert hat. Das Hotel ist viel zu klein. Das Sondereinsatzkommando wird aus hundertfünfzig Personen bestehen, fast soviel, wie das Astoria Zimmer hat. Also, hier können wir nicht bleiben. Hunsche, Sie und mein Sohn kümmern sich sofort um eine neue Bleibe.«
»Was stellst du dir denn vor?« fragte ihn sein Sohn.
»Hm, Eichmann arbeitet lieber in Ruhe, abgeschieden im Hintergrund, vielleicht solltet ihr euch mal am Stadtrand umschauen. Jedenfalls brauchen wir so schnell wie möglich Platz für das komplette Sonderkommando. Wir können uns schließlich nicht über die ganze Stadt verteilen.«
Nachdem die beiden den Raum verlassen hatten, bestellte Krumey Cocnac und Kaffee für zwei.
»Also Dieter,« er war mit Hauptsturmführer Wisliceny seit langem befreundet, »nach dem Kaffee werden wir uns auf den Weg machen, was meinst du?«
»Ja, ich denke es wird Zeit. Wir brauchen nur ein paar Minuten bis zum Gemeindehaus in der Sip utca.«
Herman Krumey nickte und schlürfte seinen Kaffee.

Paul Singer wartete im Büro seines Onkels Ernö Kahan im dritten Stock des Hauses der jüdischen Gemeinde in der Sip utca 12. Der Hofrat war seit einer Stunde überfällig, und Paul begann sich Sorgen zu machen. Er trat hinter den Schreibtisch seines Onkels und betrachtete zum tausendsten Mal die Fotografie im Silberrahmen, die seine Mutter und Ernö Kahan zeigte. Der Onkel hielt voller Stolz den gerade neun Tage alten, in weißes Spitzentuch gehüllten Paul in seinen Armen. Das war 1918 in Berlin. Die Fotografie war einen Tag nach der Brit Mila, seiner Beschneidung, aufgenommen worden, zu der Onkel Ernö aus Budapest angereist war, um als Gevatter nach altem Brauch den Säugling zu halten, während der Mohel den rituellen Eingriff vornahm.
Es gab kein Foto, das ihn mit seinem Vater zeigte, denn der war bereits vor Pauls Geburt gestorben. Das hatte die Mutter ihm jedenfalls erzählt. Und auch Onkel Ernö hatte oft von diesem Unglück gesprochen, wenn er die beiden in Berlin besuchte, zuletzt 1933, wenige Monate nach der Machtergreifung der Nazis. Damals hatte der Onkel Ruth Singer und ihren Sohn kurzentschlossen mit nach Budapest genommen. Paul konnte sich noch gut an den Abschied von Berlin erinnern. An den Bankier Wilhelm Müller und seine Frau, an deren Sohn, seinen Freund Hans, und an das schöne Haus am Schlachtensee, wo die Mutter als Haushälterin gearbeitet hatte.
Genau zehn Jahre danach, kurz vor ihrem Tod, hatte seine Mutter ihm erzählt, daß Wilhelm Müller sein Vater war, nicht ihr verstorbener Mann. Paul erinnerte sich noch sehr genau daran, wie stockend sie ihm die Wahrheit gesagt hatte, so als schäme sie sich dafür. Sie sagte ihm auch, daß Onkel Ernö es wisse, seit Pauls Geburt. Aber Paul hatte mit seinem Onkel nie darüber gesprochen.

Die Bürotür ging endlich auf. Anstelle des Onkels traten zwei SS-Männer ein. “Sie sind Paul Singer, verwandt mit Hofrat Kahan, wurde uns gesagt?” Der ihn so ansprach war groß und ziemlich korpulent. Er redete wie jemand, der keinen Widerspruch duldete.
»Ja«, antwortete Paul.
»Sie gehören zur Führung der hiesigen jüdischen Gemeinde?«
»Ich bin im Vorstand einer zionistischen Organisation.«
»Gut, wir haben große Sympathien für die zionistische Bewegung. Welche Funktion bekleiden Sie dort?«
»Ich bin Schatzmeister des Vereins.«
Der Offizier wollte noch weiter fragen, aber dann zögerte er.
»Na, lassen wir das erstmal. Hier hat man angeblich keine Ahnung, wo Hofrat Kahan ist. Wissen Sie es?«
»Nein«, antwortete Paul, »ich warte seit über einer Stunde auf ihn.«
»Also, das werden wir bestimmt nicht tun, auf einen Juden warten«, sagte der Dicke und lachte seinen Kameraden an, der ergänzte: »Selbst dann nicht, wenn der Jude ein Hofrat ist.«
Dann schaute er sich aufmerksam in dem großräumigen Büro um und schnalzte zufrieden mit der Zunge. Sie würden sich hinter dem wuchtigen Schreibtisch postieren, der Raum war groß genug, um Stühle für die Führer der jüdischen Gemeinden aufzustellen. Auch einen Platz für die Protokollantin hatte er schon entdeckt.
»Sie richten dem Hofrat aus«, befahl er schließlich, »daß sich die wichtigsten Gemeindeführer und sonstigen Repräsentanten der Budapester Juden morgen früh um zehn Uhr hier in diesem Büro zu einer Besprechung mit uns zu versammeln haben, aber höchstens zehn Personen, hören Sie, die Entscheidungsträger. Sie sind mir persönlich verantwortlich dafür, daß alle erscheinen. Auch Sie werden anwesend sein. Haben Sie das verstanden?«â€š
»Ja … aber, wenn ich fragen darf, wem gegenüber bin ich verantwortlich?«
»Krumey, SS Obersturmbannführer Hermann Krumey.«

Paul Singer starrte ungläubig auf die Tür, die Krumey offen gelassen hatte. Der kurze Auftritt der beiden Deutschen kam ihm vor wie ein Spuk. Aber er wußte sehr genau, daß er das eben Erlebte nicht einfach abschütteln konnte wie einen schlechten Traum. Er setzte sich in den Schreibtischstuhl seines Onkels, stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und legte sein Gesicht in die Hände. Er durfte keinen Fehler machen. In Gedanken ging er die wichtigsten Führer der Budapester Gemeinden und Organisationen durch und kam tatsächlich auf knapp zehn Personen. Ob Krumey ihn auf die Probe stellen wollte?
Er warf einen Blick auf die Tischuhr, es war bereits nach sechs, und wieder verharrten seine Augen auf der alten Fotografie. Berlin 1933. Was mochte aus Hans geworden sein? Seit elf Jahren keine Briefe, keine Telefonate, keine Nachrichten von gemeinsamen Freunden oder Bekannten. Von der Berliner Zeit waren nur vage Erinnerungen an gemeinsame Kinderspiele im Garten des großen Hauses geblieben.
Er stand auf, verließ das Büro seines Onkels und machte sich auf den Weg, die Nachricht von dem für morgen anberaumten Treffen zu überbringen.

Die Budapester Prostituierten kannten an diesem Abend nur ein Ziel: das Hotel Astoria, in dem die Siegesfeier der Deutschen tobte. In den Zimmern und auf allen Gängen, im Foyer und vor allem im Café und im Restaurant, wo sich die höheren Chargen Tische gesichert hatten, herrschte ausgelassene Stimmung. Auch mehr oder weniger prominente Symphatisanten der Deutschen gaben sich die Ehre, einige in Begleitung von Edelhuren, und nicht immer war klar, wer die Begleitung des anderen brauchte, um Einlaß zu finden.
Während in den Hotelgängen das Bier in Strömen floß und Lieder der SS bis zur Heiserkeit gegröhlt wurden, dominierten Champagnerkelche, Gesellschaftsuniformen und Abendkleider das Ambiente im Restaurant und dem anschließenden Café. Dort saßen Hermann Krumey und Dieter Wisliceny an einem der wenigen Tische mit Fensterblick und warteten auf Krumeys Sohn und Otto Hunsche.
»Wann kommt eigentlich Eichmann nach Budapest?« Dieter Wisliceny hatte sich nach vorn gebeugt, als er Krumey die Frage stellte. Krumey zog genüßlich an seiner Zigarre, hob dann langsam sein Glas und trank einen Schluck Champagner. Erst nachdem er das Glas wieder abgestellt hatte, blinzelte er seinem Freund verschwörerisch zu. Er genoß sein Herrschaftswissen und tat sich gleichzeitig schwer, geheime Informationen für sich zu behalten, denn durch ihre Preisgabe fiel Glanz auf ihn.
»Eichmann kommt morgen«, flüsterte er, als offenbare er ein großes Staatsgeheimnis, und lehnte sich gewichtig zurück. Als er dem Kellner winkte, um eine zweite Flasche Champagner zu bestellen, sah er seinen Sohn am Eingang zum Café nach ihm Ausschau halten. Er gab ihm ein Handzeichen und kurz darauf saßen auch Werner Krumey und Otto Hunsche an dem Fenstertisch und stießen mit den beiden anderen an.
»Auf unsere gemeinsame Aufgabe«, prostete Hermann Krumey ihnen zu.
»Darauf und auf das Hotel, das wir gefunden haben«, sagte Werner, begierig, von der erfolgreichen Erledigung ihres Auftrages zu erzählen. Als sein Vater und Wisliceny erwartungsvoll hochschauten, berichtete Werner nach einem Seitenblick auf Otto Hunsche, der ihm zunickte, von dem herrlich gelegenen Hotelkomplex auf der Budaer Seite am Hang des Schwabenberges. »Es befinden sich dort in völliger Abgeschiedenheit drei Hotels nebeneinander, das Majestic, das Mirabel und das Lomnic. Sie wurden erst vor wenigen Jahren gebaut, sind sehr modern und komfortabel eingerichtet und bieten genug Zimmer für uns, ein anspruchsvolles Café-Restaurant, Gesellschaftsräume und sogar eine eigene Wäscherei.«
»Ich habe Befehl gegeben, die Häuser zu räumen«, ergänzte Hunsche, »wir können schon morgen früh einziehen.«
Hermann Krumey war zufrieden und bestellte eine weitere Flasche Champagner. Inzwischen war es weit nach Mitternacht und die Siegesfeier auf dem Höhepunkt angelangt. Die Kellner servierten pausenlos Getränke, und die ersten Gäste verschwanden mit ihren neuen Damenbekanntschaften.
Werner Krumey öffnete den obersten Knopf seiner Uniformjacke. Ihm war heiß, und er spürte deutlich die Wirkung des Alkohols. Seine Stimme klang schon ein wenig belegt.
»Wer bezahlt eigentlich?« fragte er seinen Vater, als der Kellner eine neue Flasche brachte. Seine drei Tischgenossen schauten sich verständnislos an, dann lachte sein Vater. »Selbstverständlich die ungarische Regierung, was denkst du denn? Schließlich sind wir gekommen, um den Staat vor seinen Feinden zu retten. Die dabei anfallenden Spesen sind nichts gegen den Dienst, den wir Ungarn erweisen.«
Die anderen nickten und hoben ihre Gläser.
»Auf ein vaterländisches, dem Reich verbundenes Ungarn«, prostete Hermann Krumey und erhob sich mühsam von seinem Stuhl, der polternd umstürzte. Die Geste blieb nicht unbemerkt, und plötzlich standen alle Gäste im Café an den Tischen und erhoben ihre Gläser.
»Auf unseren Bündnispartner Ungarn«, rief Krumey, und viele Gläser stießen aneinander. Ihr heller Klang versetzte alle Anwesenden für einen Moment in eine bedeutungsvolle, fast andächtige Stimmung.